Erstellt von Dr. Uwe Eisermann, Gründungspräsident XU Exponential University of Applied Sciences (i.Gr.)
History, if viewed as a repository for more than anecdote or chronology, could produce a decisive transformation in the image of science by which we are now possessed. That image has previously been drawn, even by scientists themselves, mainly from the study of finished scientific achievements as these are recorded in the classics and, more recently, in the textbooks from which each new scientific generation learns to practice its trade. Inevitably, however, the aim of such books is persuasive and pedagogic; a concept of science drawn from them is no more likely to fit the enterprise that produced them than an image of a national culture drawn from a tourist brochure or a language text.
Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions (1962)
Seit ein paar Jahren verfolgt die TU Dresden bei der Vergabe eines Teils ihrer Professuren ein interessantes Konzept: Anstelle von klassischen Ausschreibungen, setzt die Universität im Rahmen ihrer Open Topic Tenure Track Professuren (OTTP) auf einen aktiven Rekrutierungsprozess. Gesucht werden – völlig unabhängig von ihrem jeweiligen Fachgebiet – besonders herausragende und innovative Forscher. Bei diesem „Open Topic“-Ansatz geht es also einzig und allein darum, die brillantesten Wissenschaftler zu gewinnen.
Das ist ein radikaler Schritt. Übertragen auf ein Unternehmen würde das bedeuten, eine Personalabteilung rekrutiert besonders begabte Mitarbeiter aus völlig unterschiedlichen Bereichen, egal, ob ihr Profil im Unternehmen benötigt wird oder nicht. So würde der Historiker beim Automobilkonzern landen, der Mediziner beim IT-Riesen oder der Physiker bei der Versicherung.
Klingt verrückt? Nun, was aber, wenn genau darin der Schlüssel für Innovation im digitalen Zeitalter liegt? Der Wissenschaftsphilosoph Thomas S. Kuhn beschäftigt sich in seinem mittlerweile zum Klassiker avancierten Werk „The Structure of Scientific Revolutions“ mit der Entstehung von Paradigmenwechseln. Also grundlegende Richtungswechsel innerhalb eines wissenschaftlichen Feldes, wie z.B. die Kopernikanische Wende oder Einsteins Relativitätstheorie. Ausgelöst werden diese wissenschaftlichen Revolutionen laut Kuhn durch Anomalien, die sich nicht mit den im jeweiligen Paradigma vorherrschenden Regeln und Erklärungsmodellen vereinbaren lassen. Diese Irritationen entstehen dabei i.d.R. nicht innerhalb des Systems, sondern werden von außen herangetragen. Denn ein Paradigma strebt von sich selbst aus nicht nach Veränderung – im Gegenteil: Wissenschaftler einer Disziplin werden zunächst immer versuchen, die aufkommenden Anomalien mit dem bestehenden Paradigma zu vereinen.
Erst der Blick von außen eröffnet also grundlegend neue Perspektiven und ist in der Lage, radikale Veränderungen in einem bestehenden System zu bewirken. Das gilt für die Wissenschaften genauso wie für andere Bereiche der Gesellschaft. Und damit wird Kuhns Ansatz zu einer Blaupause für die Digitalisierung – in zweierlei Hinsicht:
Zum einen, weil die Digitalisierung selbst einen Paradigmenwechsel darstellt, infolgedessen zahlreiche Annahmen und Gewissheiten – etwa darüber, wie Geschäftsmodelle bestimmter Branchen funktionieren – radikal infrage gestellt werden. Zum anderen, weil gerade die Digitalisierung, stärker als andere Entwicklungen zuvor, Innovationen von außen provoziert. Bezogen auf die Wirtschaft äußert sich dies etwa im Aufkommen von völlig neuen Wettbewerbern außerhalb des eigenen Branchen-Universums. Diese radikale Öffnung von ganzen Branchen und Geschäftsmodellen für neue Ideen und Impulse, hervorgerufen durch digitale Technologien zeigt, dass die Beschränkung auf ein isoliertes Fachgebiet nicht mehr zeitgemäß ist. Stattdessen wird die Interdisziplinarität, die Vernetzung von Wissen und Branchen, die radikale Offenheit zur wesentlichen Kernkompetenz im digitalen Zeitalter.
Insofern sind die Open Topic Tenure Track Professuren ein spannender Ansatz, der mehr denn je in unsere Zeit passt. Wir wollen dieses Prinzip der systemischen Offenheit noch weiter tragen. Darin sehen wir unsere Mission. Die exponentielle Hochschule soll zu einem internationalen Knotenpunkt der digitalen Welt werden, ein offenes Forum für Ideen aus unterschiedlichen Disziplinen und Bereichen, weit über die Grenzen des eigenen Fachgebiets hinaus. Sie soll offen sein für äußere Einflüsse aus Kunst, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft.
Denn nur diese Offenheit in ihrer radikalsten Form kann einen Paradigmenwechsel hin zur digitalen Welt bewirken.